Kolumne Zeitsprünge | FIAT Tipo – Der Erfolg ist vorprogrammiert

Fiat Tipo 1.4 1.6 1988-1989

Mit extravagantem Design und viel Innenraum geht der Fiat Tipo auf der Jagd nach dem Vorbild Golf. Ein Text aus der SZ im Januar 1988.

Da gab es dann Zeichnungen von Fahrzeugen mit aufsteigender und mit abfallender Seitenlinie zu bewundern – und klar: Die ansteigende Linie mit keckem Knick nach oben über dem hinteren Radkastl ist die beste von allen. Da gab es Filmausschnitte, in denen Roboter – in Hallen leer von Menschen – pressen, lackieren, an- und abschrauben, Räder montieren, Scheiben einfügen und vormontierte Armaturenbretter befestigen. Es konnte nahezu der Eindruck entstehen, dass der Qualitäts-Maniak Ghidella den Unsicherheitsfaktor Mensch am liebsten komplett verbannen würde.

Und schließlich gab es auch den Tipo selbst zu sehen – und wie das so ist bei neuen unkonventionellen Formen: Es gefällt einem oder es gefällt einem nicht. Mir erscheint die Optik des neuen Fiat gelungen, an manche Ecken und Kanten wird man sich gewöhnen müssen, das dritte Seitenfenster wirkt in natura harmonischer als auf den Fotos, und die um die Ecken herumgezogene Heckklappe ist wirklich pfiffig. Der Fiat Tipo ist breiter als man vermutet, und er ist zugleich höher geworden. Daraus resultiert ein Innenraum, der in dieser Klasse das Wort „großzügig“ zu Recht trägt. Selbst groß gewachsene Menschen, auf Anhieb zurecht, und der große Kofferraum dürfte (im Zusammenwirken mit den vier Türen und dem umklappbaren Rücksitzlehnen) einen Stauraum abgeben, der auch den Wocheneinkauf im Großmarkt problemlos schluckt.

Fiat Tipo 1988-1992

Licht und Schatten beim Fiat Tipo

Weniger glücklich scheint das digitale Armaturenbrett, dem man die Spiellust seiner italienischen Designer doch zu sehr anmerkt – die aufzuckenden Zahlen, die an- und absteigenden Skalen und die mit reichlich Funktionsknöpfen und Schaltern versehenen Bedienungshebel bedürfen einer längeren Eingewöhnungsphase –, und warum die heizbare Heckscheibe an dem Hebel an- und ausgeschaltet werden muss, der zugleich auch für die Bedienung der Front- und Heckscheibenwischer, deren Wisch-Wasch-Anlagen und dem Intervall-Schalter zuständig ist, mag vielleicht den Designer verständlich sein – vielen Käufern jedenfalls nicht.

Und auch die zweite Armaturenbrett-Lösung erscheint nicht optimal – die Instrumente sind zu weit verteilt, und das verarbeitete Kunststoffmaterial scheint ein wenig zu „billig“ zu wirken.

Von Juni an werden drei Motor-Varianten bei den Händlern bereit stehen: Ein 1,4 Liter (ohne Katalysator) mit 72 PS Leistung (dieser Fiat Tipo erreicht 161 km/h beschleunigt in 13 Sekunden von Null auf 100 km/h – die Verbrauchswerte: 5,2 Liter bei 90 km/h / 7,1 Liter bei 120 km/h und 8,5 Liter beim Stadtzyklus) und ein 1,4 Liter mit Katalysator und 70 PS Leistung (die Verbrauchswerte lagen hier noch nicht vor). Dazu kommt eine 1,6-Liter-Variante mit Katalysator. Die Leistung liegt hier bei 90 PS, die Höchstgeschwindigkeit beträgt 178 km/h, und die 100-km/h-Grenze wird nach 11,7 Sekunden erreicht. Die Verbrauchswerte: 5,0 Liter bei 90 km/h, 6,9 Liter bei 120 km/h und 8,9 Liter Stadtzyklus. Im Spätherbst wird dann noch die Turbo-Diesel-Variante mit 90 PS aus 2 Liter auf den Markt kommen. Mit 175 km/h Höchstgeschwindigkeit und einer Beschleunigungszeit von 12 Sekunden zu 100-km/h-Grenze ist dieses mit einem Ladeluftkühler ausgestattete Auto für einen Diesel ausgesprochen temperamentvoll. Die Verbrauchswerte: 4,9 Liter bei 90 km/h, 6,6 Liter bei Tempo 120 und 6,2 Liter im Stadtzyklus (alle Verbrauchswerte sind DIN-Werte der Firma Fiat).

Da die Fiat-Getriebe seit Jahren unter dem Ruf leiden, nicht besonders präzise schaltbar zu sein, sind die Turiner Techniker nun auch daran gegangen, ein völlig neues Getriebe zu konstruieren – erste Kilometer mit dem Wagen bestätigten, dass hier die Vorgaben von Vittorio Ghidella erfüllt wurden: das Fünfgang-Getriebe ist leicht und präzise schaltbar und trägt so seinen Teil zur Fahrfreude bei. Weniger erfreulich war die Tatsache, dass einige der Tipo-Wagen bei höheren Geschwindigkeiten stark unter Windgeräuschen litten. Dies wurde von den anwesenden Technikern darauf zurückgeführt, dass ein Teil der Wagen noch der Vorserie entstammte und deshalb naturgemäß unter Kinderkrankheiten zu leiden habe. Eine Erklärung, die nur teilweise akzeptiert werden kann – hatte Ghidella doch bei seinem Monolog mehrfach darauf hingewiesen, dass man – abgesehen von den Millionen von Testkilometern – bereits beide Vorserie höchste Anforderungen an die Verarbeitungsqualität gestellt habe, damit bei Serienbeginn nur perfekte Wagen das Band verlassen. Erste längere Fahrten mit einem Serienwagen werden zeigen, ob wirklich nur die Vorserie mit diesem Ärgernis behaftet war.

Das Fahrwerk: Problemlos und leicht fahrbar, wie alle Fronttrieblern leicht untersteuernd ausgelegt, ist der Fiat Tipo hier voll auf der Höhe der Zeit. Die Lenkung ist präzise – die Übersicht hervorragend, nur wünscht man sich bei Regen etwas breitere Scheibenwischerblätter (die auch problemlos montierbar wären, Platz ist genug vorhanden), damit auch langgewachsene Fahrer nicht durch das ungeputzte Oberteil der Frontscheibe verunsichert werden.

Viele Pluspunkte für den Fiat Tipo

Kurz zusammengefasst: Der Fiat Tipo überzeugt durch viel Raumangebot, durch gute Zugänglichkeit (die Türen lassen sich extrem weit öffnen) und durch ein Design, das zwar etwas gewöhnungsbedürftig ist, aber zugleich den Vorteil hat, sich von dem automobilen Alltags-Einerlei angenehm abzusetzen. Weniger erfreulich ist die Innenausstattung, die teilweise zu manieriert (wie beim digitalen Armaturenbrett) oder zu billig (wie bei der Auswahl und der Verarbeitung der Plastikteile) erscheint. Ob die Windgeräusche und teilweise lästigen Brummfrequenzen die Schwächen einzelner Vorserien-Wagen waren und bis zum Serienanlauf ausgemerzt sein werden, werden spätere Fahrten zeigen – sie sollten bei einer ersten Präsentation nicht überbewertet werden.

Ob der Fiat Tipo seinem großen Vorbild und Gegner Paroli bieten kann, ist schwer zu beantworten. Natürlich wird der neue Italiener auf riesige Stückzahlen kommen und den Gewinn des Hauses Fiat (im vergangenen Jahr immerhin knapp 3 Milliarden Mark) weiter mehren. Und er wird den Marktanteil des Turiner Giganten weiter erhöhen – aber wohl kaum zulasten des Wolfsburger Golfs. Warum? Der Golf erscheint in sich geschlossener, abgerundeter. Golf und Tipo mögen gleich viele Vorzüge haben – es scheint aber, dass der Golf weniger Schwächen hat. Andererseits: Mit Preisen zwischen 17.000 und 22.500 Mark hat der Tipo eine gute Einstandsbasis – und wer auf die High-Tech-Varianten wartet, muss sich nicht allzu lange gedulden: Ein 1,8-Liter mit 16 Ventilen läuft bereits auf den Teststrecken und wird im Sommer `89 bei den Händlern erscheinen – und Details wie Allradantrieb sind ebenfalls in der Vorbereitung. Vielleicht ist es unfair, den Tipo mit dem Golf zu vergleichen – dieser Wagen hat eine Ausnahmestellung, wie auch die Zulassungsziffern beweisen. Andererseits ist es noch nie eine Schande gewesen, sich am Marktführer zu orientieren, sich an ihm zu messen. Und da hat manch anderer Konkurrent bereits deutlich schlechter abgeschnitten.

Fiat Tipo Selecta 1.4 1.6 1990-1991


Dieser Text ist erstmals in der Süddeutschen Zeitung Nr. 23 vom 29. Januar 1988 erschienen.


Fotos Stellantis Germany GmbH

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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