Mercedes-Benz SL W 113 – Die Pagode als Leuchtturm

2022 feierte Mercedes-Benz 70 Jahre SL-Klasse, beginnend mit dem 300 SL Rennsportwagen von 1952 bis zur aktuellen Generation R 232. 2023 gibt es ein weiteres rundes, sportlich-leichtes Jubiläum zu feiern: 60 Jahre Mercedes-Benz SL W 113, besser bekannt als „Pagode“.
Als der 230 SL der Baureihe W 113 auf dem Genfer Automobilsalon 1963 präsentiert wird, hat er gleich mehrere Aufgaben auf den Weg bekommen. Für ein einzelnes Auto eigentlich zu viele, um sie alleine zu schultern. Doch die zweite SL-Generation stellt sich der Aufgabe.
Die Baureihe 113 soll gleich zwei sehr unterschiedliche Fahrzeuge ersetzen: den Vollblutsportler 300 SL Baureihe W 198 und den eleganten 190 SL (W 121). Allein schon die Fußstapfen des bereits zu dieser Zeit legendären Flügeltürers und später 300 SL Roadster sind schwer zu füllen. Das kleine Schwesternmodell 190 SL sprach eine ganz andere Klientel an, die es nicht so eilig hatte, aber dafür umso mehr eine gute Figur auf der Seepromenade des Lago Maggiore machen wollte. Wie sollte es also gelingen, die Eigenschaften von zwei so unterschiedlichen Autos zu vereinen, weiterzuentwickeln und die Geschichte des SL weiterzuschreiben?
Mit dieser Hypothek tritt der 230 SL in Genf vor das teils neugierige, teils argwöhnische Publikum. Diejenigen, die ihn als Kompromiss zwischen den beiden SL-Varianten sehen, tun dem W 113 aber Unrecht. Er versucht sich gar nicht erst als Kompromiss, sondern ist schlicht eine Neuinterpretation eines Sportwagens mit Fokus auf Fahrleistung und Fahrverhalten mit Komfort und Sicherheit.
Bárenyi und Bracq als Väter des W 113
Die Basis des Mercedes-Benz SL W 113 bildet die Bodengruppe der „Heckflossen“-Baureihe W 111/112. Diese trägt die Handschrift von Béla Barényi, dem Leiter der Abteilung Vorausentwicklung. Der Ingenieur hat sich vor allem im Bereich der passiven Sicherheit verdient gemacht.
Zahlreiche Innovationen, Impulse und Patente gehen auf die Rechnung des langjährigen Daimler-Vordenkers. Wie auch bei der Heckflosse bietet auch der SL eine Sicherheitskarosserie mit einer steifen Fahrgastzelle und Knautschzonen mit verformbaren Bug- und Hecksegmenten.
Aus der Limousine 220 SE stammt das Fahrwerk, für die Bedürfnisse des Roadsters abgestimmt. Der 230 SL verfügt über eine Kugelumlauflenkung, ein Zweikreis-Bremssystem mit Scheibenbremsen vorn und Trommeln an der Hinterachse. Die Federung ist sportlich-straff, aber durchaus auch komfortabel. Dafür sorgen Gasdruck-Stoßdämpfer.
Unter der Haube arbeitet der ebenfalls aus der Limousine stammende Reihen-Sechszylindermotor. Für den sportiveren Einsatz im Roadster werden aber einige einschneidenden Änderungen vorgenommen. Die wichtigste ist sicher der Wechsel von der Zweistempel- zur Sechsstempel-Einspritzpumpe von Bosch. Diese ermöglicht, den Kraftstoff direkt durch den vorgewärmten Ansaugkanal und die geöffneten Einlassventile in den Brennraum zu schießen und nicht mehr nur in das Ansaugrohr.
Der auf 2,3 Liter aufgebohrte Motor M 127 II leistet nun 110 kW/150 PS bei 5500 U/min. Der Sechszylinder will also fleißig gedreht werden, im Drehzahlkeller fühlt er sich nicht ganz so wohl. Das maximale Drehmoment liegt bei 196 Nm (oder 20 mkg in der damals üblichen Einheit Meter-Kilogramm) bei 4200 U/min.
Serie ist das bewährte manuelle Vierganggetriebe aus dem Mercedes-Regal, mit etwas kürzer ausgelegtem ersten Gang für das schnelle Anfahren. Ab 1966 ist auch ein 5-Gang-Schaltgetriebe von ZF verfügbar.
Wer lieber etwas mehr Komfort wünscht, hat auch die Möglichkeit, ein 4-Gang-Automatikgetriebe zu wählen. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 200 km/h mit manuellem Getriebe und 195 km/h bei der Automatik.
So viel zu den reinen Fakten, einen SL kauft man schließlich nicht nur wegen der inneren Werte. Auch die Hülle ist entscheidend und dafür die Paul Bracq zuständig. Und ihm gelingt es perfekt, die Waage zwischen Sportlichkeit und Eleganz, Strenge und Zartheit zu halten. Der französische Designer hat im Laufe der Zeit zahlreiche große Fahrzeuge für Mercedes-Benz entworfen — so wie auch später bei den Wettbewerbern aus München — die Pagode nimmt in diesem Punkt eine besondere Stellung ein. So setzt der Mercedes-Benz SL W 113 die SL-Tradition fort, die mit dem W 198 den Ausgang nahm. Er weist aber auch den Weg in eine neue Ära mit einer neuen, frischen und innovativen Linienführung und Formensprache.
Die Krone auf die W 113 Form setzt sprichwörtlich das abnehmbare Hardtop auf. Das hohe, leichte und gläserne Dach bildet mit der filigranen Konkavbewegung das ergänzende Gegenstück zu den gedrungenen Formen der konvexen Karosserie. Dieses besondere Dach ist auch der Grund für den Spitznamen „Pagode“, der den Wagen von Anfang an begleitet.
1967 endet die Bauzeit des 230 SL nach 19.381 gebauten Exemplaren. Ersetzt wird er durch den 250 SL, der mit 2.496 cm³ etwas mehr Hubraum aufweist, aber ansonsten — auch im Hinblick auf die Leistung — recht identisch ist. Einzelne Verbesserungen wie die Verfügbarkeit von Scheibenbremsen vorn und hinten werden aber dennoch vorgenommen.
Wer etwas mehr PS haben wollte, musste noch ein weiteres Jahr warten. Der 280 SL hat nicht nur mehr Hubraum, sondern auch mit 125 kW/170 PS etwas mehr Leistung.
Wie eigentlich jede SL-Generation, hat auch die Baureihe W 113 auf ihre Art Maßstäbe gesetzt und die Richtung für die Marke vorgegeben. Die Vorgänger W 198 und W 121 waren die Pioniere, der Nachfolger R 107 mit seinem 18-jährigen Bauzeitraum von 1971 bis 1989 der Wegbereiter für größere Reichweiten und Stückzahlen. Aber die Pagode als Sehnsuchts-Mercedes der 60er Jahre ebnet den Weg der SL-Roadster, der bis heute andauert.
Der W 113 zeigt aber auch klar auf, was Mercedes-Benz Fahrerinnen und Fahrer von einem offenen Wagen mit Stern erwarten und was nicht. Sie möchten beispielsweise keinen puristischen Roadster britischer Prägung. Der Anteil von circa zwei Drittel an Fahrzeugen, die mit der optionalen Automatik und der Servolenkung geordert werden, belegt dies.
Auch die Stuttgarter Kernkompetenzen wie Zuverlässigkeit und Sicherheit sind große Verkaufsargumente bei der geneigten Klientel hierzulande, aber auch in Übersee.
Die Pagode und der Motorsport
Um die Sportlichkeit in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zu kurz kommen zu lassen, lässt Mercedes-Benz den 230 SL gleich im Erscheinungsjahr an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen. Eugen Böhringer und Co-Pilot Klaus Kaiser nehmen von 27. bis 31. August beim Marathon de la Route, der renommierten belgischen Langstreckenrallye teil.
Mit einem fest verbauten Hardtop, etwas mehr Hubraum als der Serien-230 SL und 20 PS mehr Leistung machte sich der Mercedes-Benz SL W 113 von Spa über Deutschland, nach Österreich und Italien weiter in das damalige Jugoslawien.
Als Sieger kehrten Böhringer/Kaiser nach Lüttich zurück und bewiesen damit, dass der 230 SL den sportlichen Strapazen einer Langstreckenrallye gewachsen war. Wie hart das Rennen war, sieht man auch daran, dass nur 20 von 129 gestarteten Teilnehmern überhaupt das Ziel erreichten.
Die sportlichen Erfolge betonten sicher die sportliche Note, die der Mercedes-Benz SL W 113 in sich trägt. Und auch der Serien-SL lässt sich in allen drei Motorisierungen sportlich bewegen – wenn man mit entsprechenden Drehzahlen bewegt. Ein reinrassiger Sportler wollte der W 113 aber nie sein, sondern viel mehr. Die Mischung aus Stil, Solidität und eben Sportlichkeit macht es. Und da macht die Pagode seit 1963 eine gute Figur. Als Flaneur auf dem Boulevard oder beim Überholvorgang auf der Landstraße.
Mercedes-Benz SL W 113 – Der Markenbotschafter
Für die Marke Mercedes-Benz ist die Rolle des W 113 zudem von großer Bedeutung. Er setzte den SL-Weg erfolgreich fort, ohne den Erfolg der Pagode wären vielleicht keine fünf weiteren Generationen auf den Markt gekommen. Der SL der 60er-Jahre zeigte aber auch, dass Sicherheit und offenes Fahrvergnügen miteinander vereinbar sind.
Nicht zuletzt ist die Pagode zu einem veritablen Markenbotschafter von Mercedes-Benz geworden. Die steigenden Preise der letzten Jahre künden vom Wertzuwachs, nicht nur vom reinen Geldwert, sondern auch vom Ansehen. Unter 100.000 € bekommt man schon lange keine guten Exemplare mehr. Wenn man auf noch nicht umgerüstete US-Versionen zurückgreift oder Abstriche beim Zustand machen möchte, geht es vielleicht unter diese Grenze.
Was man aber dafür bekommt, ist ein Meilenstein in der Mercedes-Benz-Historie, ein zeitloser, eleganter Klassiker; ein Wegbereiter für alle folgenden offenen Autos mit Stern und einfach ein ausgesprochen gutes Stück deutscher Ingenieurskunst und feiner französischer Linienführung.
Fotos Harry Steininger / Mercedes-Benz AG
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