Le Mans 1955 – Die 24 längsten Stunden
Der 11. Juni des Jahres 1955 ging als schwärzester Tag des Rennsports in die Geschichte ein – aus dem alljährlichen Spektakel im Nordwesten Frankreichs wurde ein Desaster mit unvorstellbaren Ausmaßen. Mit einem in Folge des Unglücks in Kraft getretenem Verbot für Rundstreckenrennen in der Schweiz, verschärften Sicherheitsauflagen und umgebauten Strecken in Frankreich, Deutschland und Italien sind die Folgen der Katastrophe bis heute zu spüren.
Le Mans 1955 – Vorgeschichte
Etwa 250.000 bis 300.000 Zuschauer fanden sich anlässlich 24. Stunden-Rennen im französischen Le Mans ein, um der 23. Saison der berühmten und bis heute ausgetragenen Rennsportveranstaltung beizuwohnen. Die Rennstrecke war seit den 1920er Jahren kaum an die immer schneller fahrenden Fahrzeuge angepasst worden, die gefahrenen Höchstgeschwindigkeiten hatten sich in diesem Zeitraum von etwa 100 km/h auf über 300 km/h gesteigert und für Schutz der Zuschauer, Fahrer und Teammitglieder sorgten lediglich provisorische Holzzäune und Strohballen. Sicherheitsgurte für die Fahrer waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhanden.
Von ursprünglich 84 gemeldeten Teilnehmern gingen letztendlich 60 Fahren an den Start, zu den vertretenen Rennställen gehörten unter anderem die Jaguar Cars Ltd., Aston Martin Ltd., Porsche KG, MG Cars Ltd., Standard Triumph Motor Company Ltd., Cooper Car Company, Lotus Engineering, Scuderia Ferrari, Officine Alfieri Maserati und die Daimler-Benz A.G. Mit Fahrern wie John Fitch, Karl Kling, Juan Manuel Fangio, Stirling Moss und André Simon waren renommierte Ausnahmetalente vertreten – Hans Hermann konnte in Folge einer in Monaco erlittenen Verletzung nicht teilnehmen. In acht verschiedenen Klassen traten die Fahrer auf der 13,492 km langen Strecke bei anfangs guten Wetterbedingungen gegeneinander an, die beste Rundenzeit von 4:06,600 fuhr Mike Hawthorn im Jaguar D-Type.
Erstmals seit dem Sieg der 20. Saison des Rennens im Jahr 1952 ging auch das Werksteam von Mercedes-Benz wieder an den Start, Hermann Lang und Fritz Riess hatten ihrer Zeit im Mercedes-Benz 300 SL (W 198) den Gesamtsieg für sich entscheiden können. Der Sieg des deutschen Rennstalls war sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankreich äußerst unpopulär, bei der Siegerverleihung herrschte gedrückte Stimmung und eine ungewöhnliche Stille. Aus diesem Grund und um schlechte Presse vorzubeugen engagierte der Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer für die Teilnahme 1955 den Franzosen Pierre Levegh – ein bereits 50 Jahre alter Fahrer, der ebenfalls bereits 1952 in Le Mans angetreten und fast 23 Stunden ohne Ersatz gefahren war. Während die Werksfahrer von Mercedes-Benz im 300 SLR antraten, galt Jaguar mit den eingesetzten D-Types als deren schärfster Konkurrent. Porsche ging mit dem populären Porsche 550 an den Start, die Scuderia Ferrari setzte auf den 121LM und Aston Martin hoffte mit dem DB3S auf einen Platz auf der Siegertreppe.
Le Mans 1955 – Der Unfall
Etwa zwei Stunden nach Beginn des Rennens – gegen 18:26 Uhr – führte Mike Hawthorn das Feld im Jaguar D-Type an und war im Begriff, die 35. Runde zu beenden. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Juan Manuel Fangio im 300 SL an zweiter Stelle, getrennt wurden die beiden durch den bereits überrundeten Pierre Levegh. Hawthorn setzte an, den weit zurückgefallenen Briten Lance Macklin im Austin-Healey 100 zu überholen, um anschließend in die Box zu fahren – zu diesem Zeitpunkt war die Boxengasse noch nicht baulich von der Rennstrecke getrennt und die Fahrzeuge mussten entsprechend am rechten Fahrbahnrand halten. Das Überholmanöver glückte, Hawthorn scherte kurz vor Macklin ein und bremste scharf ab, um den planmäßigen Boxenstopp einhalten zu können. Da der D-Type mit modernen Scheibenbremsen ausgerüstet war, bremste dieser erheblich schneller ab, als es dem Austin-Healey mit Trommelbremsen möglich gewesen wäre und Macklin sah sich gezwungen, nach links aus der Spur auszuscheren, um eine Kollision mit Hawthorn zu vermeiden. Innerhalb der folgenden Sekunden erfolgte das folgenschwere Unglück: Macklin hatte den rückwärtig nahenden Levegh nicht kommen sehen, der seinerseits dicht von seinem Teamkollegen Fangio gefolgt wurde.
Der Austin Healey verfügte aus aerodynamischen Gründen über eine nach hinten abfallende Karosserie, die auf den ungebremst heranfahrenden Mercedes mit Levegh am Steuer wie eine Rampe wirkte – er fuhr auf, hob ab und schlug durch einen Linksdrall getrieben auf einem Erdwall ein. Infolge des Einschlags überschlug sich der Wagen mehrfach und Wrackteile wurden in Fahrtrichtung geschleudert, so landeten unter anderem Motorhaube und Vorderachse in der Zuschauermenge, der Motorblock durchbrach das Chassis und wurde ebenfalls in die Menge geschleudert. Nachdem Levegh in Folge der Überschläge aus dem Wagen fiel, platzte der unter dem Fahrersitz montierte Benzintank und geriet in Brand. Die Magnesium-Legierung der Karosserie wurde bis über die Zündtemperatur erhitzt und fing ebenfalls Feuer, ein von Ersthelfern gestarteter Löschversuch mit Wasser hatte gegenteiliges zur Folge – der Brand wurde beschleunigt und das Wrack brannte noch mehrere Stunden nach dem Unfall. Sekundenbruchteile vor dem Aufprall auf den Healey konnte Levegh den herannahenden Fangio noch mit einem Handzeichen warnen, woraufhin dieser der Kollision entgehen konnte. Der getroffene Austin Healey mit Macklin am Steuer prallte gegen die Boxenmauer, erfasste drei Menschen und wurde wieder auf die Fahrbahn geschleudert.
Le Mans 1955 – Der weitere Verlauf
Trotz des schweren Unfalls wurde das Rennen planmäßig fortgesetzt und auch Unfallverursacher Hawthorn nahm nach dem Boxenstopp wieder am Rennen teil. Zur Frage, warum er Macklin vor der Abfahrt in die Boxengasse noch überholt hatte, äußerte er sich zeitlebens nicht. Die im Nachgang herausgegeben offizielle Begründung für das Fortsetzen des Rennens ließ verlauten, dass man die Zufahrtsstraße für die Rettungsfahrzeuge frei halten wollte. Als in der Nacht nach dem Unfall die Zahl der Toten und Verletzten verkündet wurden, entschied sich das in Führung liegende Team von Mercedes-Benz gegen eine weitere Teilnahme und veranlasste das Ausscheiden der beiden verbliebenden Teams. Durch das Ausscheiden von Mercedes konnte Jaguar wieder die Führung übernehmen und gewann schließlich die 23. Saison von Le Mans. Am nächsten Tag fand in der Kathedrale von Le Mans ein Trauergottesdienst statt, auf eine Siegesfeier wurde aus Respekt vor den zahlreichen Opfern verzichtet. Die traurige Bilanz von Le Mans 1955 waren 83 durch Wrackteile und Feuer getötete Zuschauer und auch Pierre Levegh überlebte das Unglück nicht und starb noch vor dem Eintreffen der Rettungskräfte. Die im Anschluss des Rennens mit der Untersuchung der Katastrophe betraute Kommission kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Ereignissen um einen Rennunfall handelte und das Team Jaguar keine Schuld treffe. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, dass sich Mercedes-Benz infolge des Unglücks aus dem Rennsport zurückzog steht die Tatsache, dass die Entscheidung für den Rückzug bereits Monate vor der Tragödie, im Frühjahr 1955, getroffen wurde.
Bis heute erinnert eine Plakette an den schicksalhaften 11. Juni 1955 und die Opfer der Katastrophe. Befestigt ist sie am neu errichteten Sicherheitszaun.
Fotos Daimler AG, Jaguar Heritage
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