Kolumne Zeitsprünge | Weltrekorde im Mercedes-Benz 190 E 2.3-16

Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 W 201 Weltrekord Nardo 1983 (6)

Nun gut, die Weltrekorde waren alt – aber sie waren 1956 mit 8 Liter Hubraum gefahren worden, Daimler-Benz genügten nun 2,3 Liter im Mercedes-Benz 190 E 2.3-16.

„Für uns war die Fahrt eigentlich eine Pflichtübung“, plauderte Prof. Breitschwerdt beim obligaten Schlückchen Sekt: „Denn der 50.000-Kilometer-Hochgeschwindigkeitstest war sowieso im Entwicklungsprogramm vorgesehen – und dass bei diesen Testfahrten gleich drei Welt- und zwölf internationale Klassenrekorde herausgekommen sind, das freut einen denn dann doch“.

Mit dem schwäbischen Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 im italienischen Nardò

Schwäbisches Understatement? Untertürkheimer Chuzpe? Wer vermag schon in die Seelen der Daimler-Benz-Ingenieure und -Mechaniker hineinzusehen, die Mitte August auf dem süditalienischen Hochgeschwindigkeitskurs von Nardò nach 3956 Runden Vollgas – wie es dem arglosen Betrachter schien – ohne größere Anstrengung diversen Firmen diverse Rekorde entriss.

Natürlich hatte man sich im Schwabenländle gut präpariert: So was hat Tradition bei der Firma, die schon öfter bei Renn- und Rekordwagen die Plane von den Automobilen nahm und dann die Konkurrenz beschämte – hier war es der Mercedes-Benz 190 E 2.3-16, dessen schlichte Bezeichnung im Hause zu langwierigen Diskussionen geführt hatte. Denn ein 190er darf, trotz 2,3 Liter Hubraum, natürlich kein 230er sein – denn diese Bezeichnung ist fest vergeben. Dasselbe gilt für das Heilige S von Mercedes.

Aber auf die „16“ ist man natürlich schon stolz, weil damit die Anzahl der Ventile öffentlich wird. Auf diesen sanften Hinweis wollte man natürlich nicht verzichten, also konnte zwangsläufig nichts anderes als Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 herauskommen.

Außerdem: Er hat es allen gezeigt – nach 201 Stunden und 41 Minuten hatte der schnellste der drei angetretenen Wagen die 50.000 Kilometer durcheilt – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 247,939 km/h.

Mit Recht wird sich der gebildete Leser nun fragen, wie es möglich ist, dass ein 2,3-Liter-Wagen solche Durchschnittsgeschwindigkeiten erreichen kann.

Ausreizen des Reglements bei der Serienversion des Mercedes-Benz 190 E 2.3-16

Dazu bedarf es zunächst einmal eines kritischen, sämtliche Fehlinterpretationen erfassenden Blick in das Reglement-Buch. Hier lassen sich dann einige Vorteile herauslesen, die einem – in der Serienversion über 230 km/h schnellen Automobil zugebilligt werden, um auf das notwendige Spitzentempo von knapp 265 km/h zu kommen.

Am Motor durfte aber nichts geändert werden: „Die drei Motoren hatten zwischen 185 und 187 PS, und das Fünfgang-Getriebe war ebenfalls serienmäßig – wenn man einmal davon absieht, dass der Rückwärtsgang demontiert war.“ Prof. Breitschwerdt wusste auch warum: „Da man bei Rekordfahrten nicht rückwärtsfahren darf, haben wir uns dieser Zahnräder eben entledigt.“

Außerdem wurde die Hinterachs-Übersetzung verlängert; nachdem die Computer die Strecke mitsamt Gefälle und Steigung berechnet hatte (80 Meter Höhenunterschied zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Punkt) entschloss er sich für 2,65:1 – was eine vernünftige Entscheidung gewesen sein mag, denn so blieb die Drehzahl zwischen 5.500/min (bergauf) und 6.100/min (bergab).

Außerdem lagen die drei Versuchswagen etwas tiefer, um 45 Millimeter insgesamt. Im Gegensatz zu seinem Serienbruder ist der Weltrekordler allerdings nur einsitzig, denn die diversen Überwachungsinstrumente, die Funkanlage und die Ersatzteile auf der Rücksitzbank sorgen hier für wenig familienfreundliche Platzverhältnisse.

Um zehn Uhr nachts ging es dann los: Die drei Fahrzeuge machten sich auf den Weg – sechs Fahrer pro Wagen und 60 Mechaniker standen bereit, überwacht von 108 Kommissaren, die scharfe Blicke auf das Geschehen warfen. Nach tausend Kilometern war der erste internationale Rekord gebrochen – mit 247,094 km/h. Und so ging es dann weiter: 1000 Meilen, 5000 Kilometer, 5000 Meilen, 10.000 Kilometer, 10.000 Meilen, 25.000 Kilometer, 25.000 Meilen, 50.000 Kilometer, den 6-Stunden-Rekord, den 12-Stunden-Rekord, den 24-Stunden-Rekord – nichts konnte die Fahrzeuge aufhalten. Alle 610 Kilometer kamen die Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 an die Box, fassten in 20 Sekunden 170 Liter Benzin und einen neuen Fahrer – alle 6500 Kilometer wurden aus Sicherheitsgründen die Hinterreifen und alle 17.000 Kilometer die Vorderreifen gewechselt – alle 25.000 Kilometer wurde in knapp fünf Minuten eine große Inspektion gemacht, inklusive der Überprüfung des Ventilspiels. Und alle 1.000 Kilometer drückten die Fahrer aufs Knöpfchen, um dem Motor – aus einem Extra-Behälter – 0,3 bis 0,4 Liter Öl nachzureichen.

Von Füchsen und Verteilerfingern

Es gab also keine Probleme, wenn man einmal davon absieht, dass in der vorletzten Nacht ein liebeshungriger Fuchs auf der Jagd nach einer Gespielin dem „grünen“ Wagen (man hatte, wohl um die italienischen Kommissare patriotisch zu stimmen, die Wagen mit grün, weiß und rot bezeichnet) vor den Spoiler lief, dort sein Leben ließ und einen ungeplanten Boxenstop einleitete.

In der Nacht darauf schlug dann der Defektteufel zum ersten und einzigen Mal zu: Bei demselben Wagen und demselben Fahrer, der bereits das Fuchs-Abenteuer bei Tempo 265 gemeistert hatte, brach der Verteilerfinger – nachts um zwei Uhr, drei Kilometer von der Box entfernt. Und da seit Jahren kein Verteilerfinger mehr gebrochen war, lag natürlich auch keiner im Ersatzfundus. Der Fahrer klebte die Überreste des Kleinteils mit Zweikomponentenkleber wieder zusammen und erreichte wieder die Box.

Dort schlug dann die Stunde des teuersten Mechanikers des Hauses: Entwicklungs-Vorstand Breitschwerdt und seine gesamten Bereichsleiter werkelten am Triebwerk, um eine Lösung zu finden, das Teil so zu reparieren, dass die Kommissare keinen Regelverstoß nachweisen konnten. Die Lösung fand dann Erich Waxenberger, der – nachdem er noch schnell auf dem „roten“ Wagen die beste Rundenzeit gefahren war – bei seinem Chef diskret anregte, einen neuen Verteilerfinger so durchzusägen, dass mit ihm und dem Zweikomponentenkleber der fehlende Teil des Original-Fingers ergänzt werden konnte. „So haben wir das Original-Teil nur repariert und nicht ersetzt“, strahlte Waxenberger, bevor er „seine“ fünf Jungs wieder anheizte, den betriebsinternen Wettstreit der drei Wagen zu gewinnen.

Was dann auch gelang: Der „rote“ Mercedes-Benz 190 E 2.3-16 fuhr am Sonntagmorgen um 7.41 Uhr über die Ziellinie.

Anschließend zeigten ein paar Runden mit dem frischgebackenen Weltrekordwagen, welche Konzentration die 45 Runden, die jeder Fahrer durchfahren musste, kosten – trotz der fehlenden Servo-Lenkung und der gut haftenden Reifen muss ständig nachkorrigiert werden. Ein Blick auf die zahlreichen Instrumente sorgt dafür, dass man zwei Meter von der Ideallinie abgekommen ist. Am Tag herrschen 50° C im Auto, bei Nacht die Einsamkeit und Langeweile, dazwischen liegen zwölf Stunden Pause, die man zum Schlafen nutzen muss, da kommt nur wenig Freude auf.

Die ist dem Besitzer der Serien-Version vorbehalten, auch wenn sein Wagen nur 230 km/h erreicht: Der 16-Ventiler geht wahnsinnig gut, so knapp über 7 Sekunden auf 100 km/h (beim Rekordwagen sind es rund 8,5 Sekunden), er hört sich satt an – und braucht auch etwas weniger als das Nardò-Auto, bei dem rund 22 Liter durch die Einspritzanlage flossen. Und außerdem verfügt er über eine Lüftung, auf die die Rekordfahrer verzichten mussten – denn die hätten 4 km/h in der Spitze gekostet.


Dieser Text ist erstmals in der österreichischen Autorevue, Heft 10/1983 erschienen.


Fotos Daimler AG

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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