Kolumne Zeitsprünge | Volkswagen Passat VR6

1992 Volkswagen Passat VR6 Variant B2 Kombi VW

2,8 Liter Hubraum und 174 PS für 42.600 Mark: Mit dem Volkswagen Passat VR6 hat nun auch VW seinen Sechszylinder im Portfolio.

Auch wenn man in Wolfsburg die Frage nicht so gerne hört – gestellt werden muss sie trotzdem: Warum hat denn der VW-Audi-Konzern nun zwei grundverschiedene Sechszylindermotoren im Programm? Ferdinand Piëch, der Vorstandsvorsitzende aus Ingolstadt würde diese Frage wahrscheinlich so beantworten: „Weil wir bei Audi unserer gehobenen Kundschaft keinen Sechszylinder aus Wolfsburg anbieten mögen.“ In Wolfsburg sieht man die Sache hingegen etwas pragmatischer: „Weil bei uns der breit bauende Audi-Sechszylinder nicht unter die Motorhaube passen würde“, so ein Mann aus der Motorenabteilung. Und er hat Recht – schließlich werden die Triebwerke bei VW quer unter der Motorhaube montiert, und da hätte der 2,8 Liter aus Ingolstadt dann keinen Platz mehr.

Auf der anderen Seite scheint der Drang der Kundschaft nach mehr Leistung und mehr Hubraum unerschöpflich – „das ist das Ergebnis eines reichen Landes“, so Anton Konrad, Direktor für Öffentlichkeitsarbeit im Hause VW, „und da haben wir eben einen sparsamen Motor gebaut, der diese Wünsche erfüllt“. So mussten die Männer aus Wolfsburg nach neuen Mitteln und Wegen finden, ein Triebwerk zu bauen, das quer unter einer Passat-Motorhaube Platz findet. Und da dieser Motor natürlich auch im Herbst in den Corrado und vom Frühjahr `92 an in den Golf III gelangen soll, konnte nur eine außergewöhnliche Lösung das gewünschte Resultat erbringen. Die Lösung den schönen Namen VR6, was dem anglophil gebildeten Menschen auch zugleich klarmacht, dass der Motor auch im englischsprachigen Raum als „We are six“ durchlaufen wird. In Wirklichkeit soll die Buchstabenkombination den Eindruck vermitteln, dass hier die Vorzüge eines V-Motors mit denen eines Reihen-Triebwerks vereint wurden und dass die Zylinderzahl eben 6 beträgt.

174 PS auf kleinstem Raum im Volkswagen Passat VR6

Der Trick besteht bei diesem VR6 nun darin, dass diese V-Sechszylinder nun über eine Spreizung von 15° verfügt, die dem Zylinderblock nahezu die Form und die Baulänge eines Vierzylinder-Reihenmotors gibt. Diese Form hat zudem den Vorteil, dass über beide Zylinderreihen ein gemeinsamer Leichtmetallzylinderkopf montiert werden kann, der die beiden obenliegenden Nockenwellen beinhaltet. Wahrscheinlich dürfte es derzeit wenige Motoren geben, die 2,8 Liter Hubraum und 128 kW oder 174 PS auf einem derart kleinen Raum anbieten. Anfänglich wird dieses kompakte Kraftpaket nur im Volkswagen Passat VR6 zum Einsatz kommen – wobei die Marketingabteilung natürlich auch den idealen Käufer genau beschreiben kann: Ein Langstreckenfahrer ist er, der Wert auf Komfort und Leistung legt; gewissermaßen der GTI-Fahrer mit großer Familie. Und man weiß auch bereits, wie viele der vielen Passat-Käufer zu dem mit 42.600 Mark Einstandspreis nicht eben billigen Volkswagen greifen werden: innerhalb des ersten Modelljahres, das bis zum Juli `92 reichen wird, sollen 9.500 Volkswagen Passat VR6 in Deutschland, 7.000 im europäischen und 11.500 in den USA und Kanada abgesetzt werden. Und diese 28.000 Fahrzeuge werden rund acht Prozent der Passat-Produktion abdecken.

Was erwartet denn nun den VR6-Fahrer? Zuerst einmal ein bemerkenswert leises und komfortables Triebwerk, das über die gesamte Drehzahlbreite nie aufdringlich oder gar laut wird. Und mit seinem kräftigen Drehmoment von 240 Nm sorgt der erste Sechszylinder aus Wolfsburg auch dafür, dass Fahrer und Fahrerinnen, die nicht so gerne zum Schaltknüppel greifen, im Stadtverkehr im vierten oder fünften Gang mitschwimmen können.

Temperament und Sparsamkeit im Volkswagen Passat VR6

Erfreulich ist auch, dass der neue Motor offensichtlich über nur mäßige Trinksitten zu verfügen scheint: je nach Fahrweise fließen neun bis 13 Liter bleifreier Superkraftstoff durch die Einspritzanlage – kein schlechter Wert für ein ausgewachsenes 2,8-Liter-Triebwerk. Dazu die DIN-Werte: 7,9 Liter bei konstant 90 km/h; 9 Liter bei Tempo 120 und 12,5 Liter beim Stadtzyklus. Temperament ist ebenfalls ausreichend vorhanden: die 128 Kilowatt beschleunigen den Passat in knapp acht Sekunden auf 100 km/h und die Höchstgeschwindigkeit pendelte sich bei über 220 km/h ein.

Da Fahrzeuge mit Frontantrieb von einer gewissen Leistungsklasse an ihre Insassen – besonders auf nassen Fahrbahnen – gerne durch durchdrehende Reifen erschrecken, hat VW dem VR6 serienmäßig eine elektronische Differenzialsperre (EDS) mit auf den Weg gegeben, die ihren Aufgaben mit der zu erwartenden Perfektion nachkommt: Auch bei engen Kurvenradien und auf nasser Fahrbahn ist hier beim Beschleunigen von diesen Schwächen des Frontantriebs nichts mehr zu bemerken.

Nun gibt es ja viele Passat-Käufer, die eigentlich dem Variant verfallen sind – jenem Kombi also, der nicht nur dem Auge gefälliger ist, sondern der zudem auch noch durch einen beachtlichen Laderaum Vertretern, Liebhabern sperriger Hobbies und Familienvätern gleichermaßen entgegenkommt. Bei uns in Deutschland sind dies immerhin knapp 70 Prozent aller Passat-Interessenten. Sie werden an dem Volkswagen Passat VR6 Variant erst Recht ihre Freude haben, denn dieses Modell ist (wie der Großteil aller Kombis) durch seine bessere Achslastverteilung noch mehr geeignet, die Qualitäten des Fahrwerks zu demonstrieren.

Für viele Auto-Interessenten gilt der Passat ja nicht unbedingt als ein Beau – und dennoch ist er (vor dem Audi 80) bestverkaufte Wagen seiner Klasse. Verkaufserfolge dieser Art kommen aber nicht aus dem heiteren Himmel, hier müssen offensichtlich noch andere Dinge mitspielen: Der Passat ist (und dies gilt besonders für den Variant) einfach praktisch und dazu kommen noch die Qualität und eine vernünftige Preis-/Gegenwertrelation, die auch beim VR6 gegeben sein dürfte – denn eines Tages werden auch diese Fahrzeuge auf dem Gebrauchtwagenmarkt zu erstaunlichen Preisen gehandelt werden.

Dass sich die Wolfsburger aber dennoch Gedanken zu dem Thema Preise gemacht haben, beweist eine bislang noch nie zu hörende These: „Wir bauen unsere Autos doch nicht nur für Aufsteiger, die sich immer teurere Autos leisten können – es gibt doch schließlich auch Absteiger, die sich vielleicht keinen teuren Sechs- oder Achtzylinder leisten können, und deshalb auf unser Sechszylinder-Sonderangebot zurückgreifen möchten.“ So gesehen ist der VR6 natürlich ein Sonderangebot.


Dieser Text ist erstmal in der Süddeutschen Zeitung Nr. 119 vom 25./26. Mai 1992 erschienen.


Fotos Volkswagen AG

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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