Kolumne Zeitsprünge | Mercedes-Benz W 140 – Riesenbaby im Frack

Mercedes-Benz W 140 S Klasse 600 SEL 1992 (20)

Die neue S-Klasse, der Mercedes-Benz W 140: Unverzichtbarer Technologieträger oder überladenes Straßenschiff?

Vor zwölf Jahren präsentierte Mercedes-Benz die W 126-Baureihe – und verkaufte von dieser S-Klasse mehr als 800.000 Exemplare. Und nun soll die neue S-Klasse der stark gewordenen Konkurrenz wieder einmal zeigen, wo die besten Luxus-Limousinen der Welt gebaut werden: in Stuttgart.

Die Zeiten ändern sich: Ging bei der Präsentation der alten S-Klasse im Sommer 1979 noch eine gesamte Generation von Auto-Fans (und welcher deutsche Mann ist kein Auto-Fan?) in die Knie und erwog, ohne die Gattin zu befragen, den Bausparvertrag in einen 350-SEL-Vertrag umzuwandeln, so ereilte im Frühjahr dieses Jahres die neue S-Klasse W 140 ungesehen und ungefahren der Ruf, ein zu großes und spritsaufendes Monster zu sein, mit dem der Zeitgeist heftig missverstanden worden sei. Und zwar der 300 PS starke Zwölfzylinder der Bayerischen Motorenwerke zu München noch im Juli 1987 als Stolz der deutschen Autoindustrie herausgekehrt worden, so kolportierten dieselben Meinungsträger nun unter der Hand, dass die 408 PS des neuen 600 SE und 600 SEL wohl besser vor der Entdeckung des Ozonlochs entwickelt worden wären. So rasch ändern sich eben die Zeiten.

Mercedes-Benz W 140 S Klasse 600 SEL 1992 (7)

Mercedes-Benz W 140 – Bruno Saccos Statement auf vier Rädern

Doch die Oberen aus Untertürkheim, der Wiege des Automobils, haben zu all den Gerüchten geschwiegen – bis der Vorstandsvorsitzende Prof. Werner Niefer im März dieses Jahres auf dem Genfer Automobilsalon die große Decke vom Mercedes-Benz W 140 – wie die neue Baureihe intern genannt wird – ziehen durfte. Und wieder einmal ging ein Raunen durch die Reihen: Geradezu klein wirkte er, trotz der beachtlichen Größe. Ihm wurden glatte Linien, viel Eleganz und harmonische Proportionen attestiert – und alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass die Design-Abteilung unter der Führung von Bruno Sacco das „absolute andere Statement auf vier Rädern“ kreiert habe, so ein britischer Journalist mit einem leicht verunsicherten Seitenblick auf die chromüberladenen Gefährte mit dem Jaguar-Emblem.

Und Dr. Wolfgang Peter, der Forschungs- und Entwicklungschef der Stuttgarter, reagierte auf die Fragen nach dem Sinn dieser 521,5 cm langen und 188,5 cm breiten Limousine vergleichsweise harsch: „Ehrlich gesagt, können wir die Vorwürfe, dass unsere neue S-Klasse zu groß geworden sein, nicht mehr hören. Wir haben natürlich im Vorfeld exakt eruiert, was unsere Kundschaft wünscht – nämlich mehr Komfort, mehr Luxus und mehr Leistung. Und selbstverständlich haben wir den Wagen nach den Wünschen unserer Kunden gebaut – schließlich sollen sie ihn ja auch kaufen.“

Irgendwie scheint das alles verständlich: Warum sollte man sich in einer Zeit, in der man (sofern die Kreditkarte gedeckt ist) alles kaufen kann, nicht auch ein Gefährt in die Garage stellen, in dem das geballte Know-how der ältesten Automobilfabrik der Erde vereinigt ist?

Die Motoren des Mercedes-Benz W 140

Kriechen wir deshalb einmal kurz unter die Motorhaube: Da registrieren wir zuerst, dass der 6-Liter-Zwölfzylinder mit seinen 408 PS oder 300 kW und einem Drehmoment von 580 Nm keinen Lastwagenmotor dieser Erde zu fürchten hat – und unter den Kfz-Triebwerken (lassen wir einmal die in homöopathischen Dosen verteilten italienischen Exoten beiseite) ziemlich einmalig dasteht. Aber auch die anderen Motoren überzeugen nicht nur durch ihre Leistungsentfaltung, sondern auch durch modernste Technologien, die diesen Triebwerken vergleichsweise moderate Trinksitten und exzellente Abgaswerte sichern.

Nun stand bereits einiges an Spitzentechnik zur Verfügung: So war die Vierventiltechnik bereits in den Sechs- und Achtzylindermotoren eingeführt worden, wobei die parallel dazu entwickelte Einlass-Nockenwellenverstellung entscheidend dazu beigetragen hatte, dass die bislang unvereinbar scheinenden Forderungen nach viel Drehmoment bei niedrigen Touren und mehr Leistung bei hohen Drehzahlen nun gemeinsam erfüllbar waren. Und für das Fahrzeug stand nun endlich die Raumlenkerachse – die sich bereits in allen anderen Modellreihen durchgesetzt hat – zur Verfügung.

Der entscheidende Durchbruch ist jedoch der „Datenbus“ – beim Mercedes-Benz W 140 wird zum ersten Mal eine Vernetzung von elektronischen Steuergeräten mittels eines extrem schnellen Datenverbundes realisiert. Hier stehen – wie in einer Konferenzschaltung – die Steuergeräte des Motor- und des Antriebsmanagements ständig miteinander in Verbindung und tauschen alle relevanten Daten miteinander aus.

Mercedes-Benz W 140 S Klasse 600 SEL 1992 Interieur (3)

Insgesamt sind sechs Steuergeräte miteinander vernetzt: je Zylinderbank eine elektronische Zündung – je Zylinderbank die elektronische Einspritzung –, die elektronische Füllungssteuerung und die Antriebs-Schlupf-Regelung. Und da jedes dieser Steuergeräte stets weiß, mit welchen Aufgaben sich gerade die anderen Systeme beschäftigen, ergeben sich natürlich völlig neue Möglichkeiten für die Sicherheit, die Ökonomie und die Ökologie.

Es würde den Rahmen sprengen, hier alle technischen Features zu beschreiben – schließlich benötigt schon die Pressemappe 120 Textseiten und 50 Seiten technische Grafiken, um jedem Aspekt des Mercedes-Benz W 140 gerecht zu werden. Da wird die Lenkkraft geschwindigkeitsabhängig eingependelt, und da registriert die Elektronik die Qualität der Straße, auf der man gerade fährt – und das „Adaptive Dämpfersystem“ sorgt dann für den optimalen Komfort. Und wenn ein Rad durchdreht, steht das Antriebs-Schlupf-System parat – und wenn ein Rad blockiert, ist das ABS zur Stelle. Und wenn man die Tür nicht zuschlagen möchte, übernimmt die „Zuzieh-Automatik“ diese Aufgabe, und wenn sich der Fahrer und der Beifahrer nicht über die Raumtemperatur einigen können, sorgt die elektronisch gesteuerte Klimaanlage eben für zwei getrennte Temperaturen.

Hunderte von dienstbaren Geistern stehen parat, um „unseren Kunden, die überdurchschnittlich viel fahren, das Leben zu erleichtern und jede Fahrt zu einem Vergnügen zu machen“, so Wolfgang Peter, einer der Väter des Mercedes-Benz W 140.

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Einsam gegen die Konkurrenz

Bewegt sich die neue S-Klasse – und besonders natürlich der 6-Liter-Zwölfzylinder – wirklich so meilenweit über der Konkurrenz? Von der geballten Innovationskraft her gesehen vielleicht schon: Gerade die Elektronik hat in den vergangenen Jahren derartige Fortschritte gemacht, dass die Konkurrenz aus England und Amerika hier auf den hinteren Rängen gelandet ist – Cadillac, Rolls-Royce und Jaguar haben hier derzeit den Anschluss verpasst. Die Japaner verfügen zwar über diese Technologien, ihnen fehlt aber noch der Stil und das über Jahrzehnte sich aufbauende Fluidum, dass man in diesen Preiskategorien mit zu erwerben wünscht.

Bleibt der Rivale aus München. Der bayerischen Zwölfzylinder ist leichter und agiler – und deshalb spielen auch die 108 PS Unterschied nicht die große Rolle, die man von der Papierform vielleicht vermuten würde. Letztlich gesehen werden beide bei 250 km/h abgeriegelt – und durcheilen beide unsere Innenstädte mit der statistisch ermittelten Durchschnittsgeschwindigkeit von 14,3 km/h.

Sagen wir es einmal so: Der 600 SEL ist für den Elder Statesman und der 750iL für dessen Sohn – und beiden macht es auch Spaß, hin und wieder die Schlüssel zu tauschen.

Dieser Text ist erstmals in der Zeitschrift NewMag 7/1991 erschienen.


Fotos Dino Eisele, Hans-Dieter Seufert / Daimler AG

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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