Kolumne Zeitsprünge | Lotus Esprit – Der Keil aus der Rennwagenschmiede

Lotus Esprit (11)

Einhundertelf Zentimeter – das entspricht etwa der Höhe des Türgriffs in ihrem Wohnzimmer, so hoch ist der Lotus Esprit. Dafür ist er beinahe zwei Meter breit, genau genommen sind 186 Zentimeter – und das sind immer noch vier Zentimeter mehr als der Daimler-Benz 500 SEL mißt. Er liegt wie flachgewalzt am Boden und die Bodenfreiheit von knapp 14 Zentimetern lässt es ratsam erscheinen, Bordsteinkanten zu meiden wie Graf Dracula die Knoblauchzehe.

Die Rede ist von einem Lotus. Genauer gesagt einem Lotus Esprit – einem englischen Sportwagen, der in den Werkshallen von Colin Chapman in Norwich mit britischer Teeruhe zusammengebaut wird. Und dieser Colin Chapman ist auch gleichzeitig der Chef des Lotus-Formel-1-Teams – vor zwei Jahren mit Mario Andretti am Volant noch Formel-1-Weltmeister. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob Chapman Straßenautos baut, um an Rennen teilnehmen zu können, oder ob er Rennsport betreibt, um Werbung für seine drei verschiedenen Straßen-Modelle zu haben.

Lotus Esprit – Unbekannter Sportler

Tatsache ist, dass die Fahrzeuge des Hauses – zumindest auf unseren Straßen – ziemlich unbekannt sind. Als glücklicher Lotus-Besitzer schwebt man permanent in der Gefahr, für seinen schicken Ferrari beglückwünscht zu werden – erst der Blick auf das Typschild überzeugt die zahlreichen „Seh“-Leute dann davon, dass sie sich geirrt haben. Und Bewunderer der Aufsehen erregenden Form gibt es genügend, der Weg zur Wagentür gestaltete sich zumeist mühsam und – je nach Temperament und Mut der Umstehenden – waren auch etliche Fragen zu beantworten: „Was ist das?“ – „Ein Lotus Esprit“ – „Was kostet der?“ – 57.800 Mark“ – „Wieviel PS hat der?“ – „162“ – „Wie schnell geht der?“ – „Etwa 215“ – „Darf ich mal mitfahren?“ – „Nein.“ Ich bin auch im Nachhinein davon überzeugt, dass die drei Polizeibesatzungen, die mich im Laufe eines Wochenendes kontrollierten und dabei die Fahrgestellnummer sehen wollten, mehr an dem Wagen als an dieser Nummer interessiert waren.

Lotus Esprit (21)

Woher kommt nun das durchgehend wohlwollende Interesse an diesem Exoten? Da wäre zunächst einmal die Form, ein wahres Meisterstück des italienischen Designers Guigiaro – flach, breit, keilförmig. Wer auf einer Grundfläche von 412 auf 186 Zentimeter einen Motor, zwei Notsitze und einen bescheidenen Kofferraum unterbringen muss, kann eben großzügiger kalkulieren und extravaganter zeichnen. Da stört es nicht so sehr, dass man vom Fahrersitz aus die Front des Wagens nur erahnen kann – erst die ausgeklappten Scheinwerfer lassen exaktes Einparken zu. Und auch dem in freundlichem Tone gehaltenen Wunsch an die Beifahrerin, das Gepäck doch bitte auf etliche kleine Taschen und Plastiktüten zu verteilen, damit sich der U-förmig um den Motor windende Kofferraum so ausgenutzt werden kann, dass die Garderobe für drei oder vier Tage vollständig mit auf die Reise kommt, wird gerne und freudig entsprochen.

Schließlich bietet der Lotus Esprit Erlebnisse mannigfaltiger Art: Da wäre zuerst die den Körper stärkende Ein- und Aussteigübung, die man zuerst in Ruhe im heimischen Hofe zur Vollendung bringen sollte, nichts sieht schlimmer aus (und erregt mehr Heiterkeit beim umstehenden Volk) als ein mühsames Hinein- und Hinauspellen aus dieser Flunder. Ja, die Bewunderer erwarten geradezu ein sportliches, diesem Fahrzeug gemäßes Auftreten.

Hausgemachte Motorenkunst im Lotus Esprit

Das nächste Erlebnis ist das Triebwerk, das Colin Chapman nicht wie manch anderer Kleinserienproduzent (im Jahr entstehen knapp 1.600 Lotus-Fahrzeuge, darunter 50 Prozent Esprit) bei Großfirmen einkauft, sondern selbst entwickelt hat und baut. Die technischen Daten sprechen hier für sich: Zwei Liter Hubraum, vier Zylinder, vier Ventile pro Zylinder, zwei obenliegende Nockenwellen, Leistung 162 PS (119 kW). Ein echtes Hochleistungstriebwerk – also mit allen Vorzügen dieser Konzeption: Drehfreudigkeit, viel Leistung bei wenig Hubraum, sparsamer Spritverbrauch (13 bis 16 Liter Superbenzin für 100 Kilometer) – und auch mit dem Nachteil der mangelnden Leistung im unteren Drehzahlbereich.

Hat man sich also mit der halbliegenden Sitzposition angefreundet, den Motor, der genau hinter den Sitzen eingebaut ist, zum Leben erweckt und sich mit der Tatsache abgefunden, dass man am Straßenverkehr auf Kofferraumdeckel- und Lkw-Reifenhöhe teilnimmt, dann sollte man den ersten Gang des sauber und präzise zu schaltenden Fünfganggetriebes einlegen, das die Wadenmuskulatur stärkende Kupplungspedal kommen lassen – und auf dem schnellsten Weg die Stadt verlassen. Denn zum „Boulevard“-Riding ist der Esprit nur bedingt geeignet: Dafür geht die Kupplung zu schwer, ist der Wagen zu unübersichtlich, heizt der Innenraum zu schnell auf, und auch der Motor macht durch das ständige Einschalten des Zusatzgebläses auf seine Überhitzungsprobleme aufmerksam.

Der Lotus Esprit gehört auf die Landstraße und auf die Autobahn – hier kann er seine Fahrwerksqualitäten voll ausspielen, hier vermag seine exakte und präzise Lenkung zu überzeugen, hier der Engländer, aus welch sportlichem Hause er stammt. Es dürfte nur wenige Fahrzeuge geben, bei denen man bereits beim Erwerb mit dem eventuellen Entzug des Führerscheins rechnen sollte – der Esprit gehört zweifellos dazu. Der Mittelmotor, die Einzelradaufhängung, die Zahnstangenlenkung, die breiten Reifen, das alles ermöglicht so problemlos schnell zu fahren, dass der Pilot zumeist 30 km/h schneller ist, als er vermutet. Sittliche Reife scheint hier also bitter vonnöten.

Acht bis zehn Mitbürger leisten sich in Deutschland alljährlich so einen Lotus Esprit. Zumeist Freiberufler, die sich noch nicht zur Gründung einer Familie entschlossen haben. Wobei man sagen sollte, dass sich so ein Esprit sehr wohl zur Findung eines Partners eignet, zur Gründung einer Familie hingegen äußerst ungeeignet ist.

Was erwartet den Esprit-Fahrer? Eine spektakuläre Form, ein Hochleistungstriebwerk, ein phantastisches Fahrwerk, aber auch eine in Details der Preiskategorie nicht entsprechende Verarbeitung, ein kleines Händler- und Servicenetz, ein aggressives, auf die Dauer lästiges Motorengeräusch – und stetige Aufmerksamkeit von Seiten der Umwelt. Und das dürfte auch der Hauptgrund für die Unterschrift unter den Kaufvertrag sein.

Dieser Text ist erstmals am 3. April 1980 in der Süddeutschen Zeitung erschienen.


Fotos Classic Trader

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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