Kolumne Zeitsprünge | Jaguar XJ 220 – Ab in die Garage

1992 Jaguar XJ 220 (10)

Gehen wir einmal davon aus, dass die 37 deutschen Käufer eines Jaguar XJ 220 bereits über ein stattliches Anwesen, eine große Reise-Limousine, einen Nerzmantel für die Gattin und eine Küchenhilfe verfügen – und bedenken wir zugleich, dass eine Fabrik mit 115 Angestellten dank des XJ 220 für rund drei Jahre ausgelastet ist und gute Löhne zahlen kann. Und dass dieses Fahrzeug zudem noch zu den umweltfreundlichsten überhaupt gehört, da es die klimatisierte Garage so gut wie nie verlassen wird – oder würden Sie sich in 1,1 Millionen Mark auf die Straße trauen? Wo unbezahlbare Blechschäden lauern? Wo ein Motor für rund 100.000 Mark zerstört werden könnte?

Es ist nahezu unmöglich, sich diesem in nur 350 Exemplaren gebaute Sportwagen emotionslos zu nähern – er scheidet die Geister, macht einen mit seiner Kompromisslosigkeit erst einmal sprachlos. Der Jaguar XJ 220 demonstriert schon mit seinem Namen sein Ziel: 220 miles per hour – oder lockere 350 km/h Höchstgeschwindigkeit. Es hat auch schon Werksrennfahrer gegeben, die mit einem Prototyp stundenlang mit dieser Geschwindigkeit im Kreis herum gefahren sind. Als Nachweis gewissermaßen. Aber die Kunden werden diesen Wert wohl eher auf dem Tachometer ablesen, in der Garage.

Jaguar XJ 220 – Die Raubkatze für die Garage

Unter der bildschönen Karosserie verbirgt sich ein Kevlar-Monocoque, darüber wölbt sich handgedengeltes Aluminium. Der 3,5-Liter-V6-Motor verfügt natürlich über vier obenliegende Nockenwellen, vier Ventile pro Zylinder und zwei Turbolader – das Ergebnis: 404 kW oder 550 PS bei 7.200/min. Mit Leistungswerten dieser Art gehen normalerweise die Löschfahrzeuge von Flughafenfeuerwehren an die Arbeit, im XJ 220 geben sie sich auf Wunsch ganz zahm und gefügig, sie sorgen allerdings bei Bedarf auch dafür, dass die Insassen nach vier Sekunden die 100 km/h-Grenze erreicht. Die weiteren Werte führen auf nahezu allen Straßen dieser Welt direkt ins Gefängnis – vielleicht ein Grund dafür, dass diese Raubkatzen in Garagen vor sich hinschlummern werden.

Wir gehörten zu den wenigen, die nicht nur einmal einen XJ 220 saßen, sondern auch (unter den strengen Augen eines Werksfahrers) vier Runden auf einem abgesperrten Rennkurs absolvieren durften. Der Neid einiger Zuschauer war fehl am Platz, denn erstens ist es doch eine gewisse Last, so viel Geld auch wieder heil zurückzubringen und zweitens zeigt einem dieser zivilisierte und erstaunliche verkappte Rennwagen auch rasch die Grenzen des fahrerischen Könnens. Denn die erreichbaren Kurvengeschwindigkeiten, die extreme Beschleunigung und die noch extremeren Bremsen bieten Reserven, die in einem „normalen“ Fahrzeug unvorstellbar sind und auch die Magennerven strapazieren. Aber wir erreichten auf der langen Geraden des Salzburgrings wenigstens den vierten der fünf Gänge und etwa 250 km/h, bevor wir das teure Stück wieder heil an die Boxen zurücklenkten. Der Eindruck nach diesen wenigen Kilometern: Eine Kupplung, die starke Waden erfordert, ein sehr präzises Getriebe, erstaunlich viel Komfort und eine Lärmkulisse, die den Einbau des serienmäßigen CD-Players überflüssig erscheinen lässt. Kurz gesagt: Ein bedingt alltagstauglicher Gruppe C-Rennwagen, der für den Dauerparkplatz in der Garage viel zu schade ist – aber dieses Schicksal wird ihm wohl nicht erspart bleiben.


Dieser Text ist erstmals in der Süddeutschen Zeitung Nr. 220 vom 23. September 1992 erschienen.


Epilog

Aus heutiger Sicht ist der Jaguar XJ 220 wohl zu spät und mit dem falschen Triebwerk erschienen – Auslöser für den Wagen waren Mitte der 80er Jahre die ersten Super-Cars wie der Porsche 959 und der Ferrari F40. Da wundert es nicht weiter, dass um den Jaguar Chefingenieur Jim Randle der „Saturday Club“ entstand, in dem interessierte Mitarbeiter darüber nachdachten, einen vergleichbaren Super-Jaguar zu entwickeln. Der Gedanke war, ein technisches Highlight zu bauen, das 220 mph (also 354 km/h) erreichen sollte – daher der erste Name XK 220. Man begann 1984 mit der Entwicklung, zwei Designer arbeiteten an ihren Formen und für den Vortrieb sollte der bewährte 6,3-Liter-V12-Motor sorgen, der seine 510 PS mit einem Allradantrieb auf die Straße bringen sollte.

Jaguar XJ 220 – Aus V12 wird V6

Jaguar-Chef John Egan war von dem Projekt nicht wirklich begeistert, was Jim Randle nicht davon abhielt, den Wagen im Geheimen weiter zu entwickeln. Als Egan das mittlerweile auf Jaguar XJ 220 umgetaufte Coupé am 10. Oktober 1988 zum ersten Mal fertig sah, beschloss er spontan, den Wagen sechs Tage später auf der British Motor Show zu zeigen – und die Kaufverträge und Anzahlungen (im sechsstelligen Bereich!) kamen in Massen. Um die Flunder in Serie fertigen zu können, musste der V12-Motor jedoch dem erwähnten 3,5-Liter-Biturbo-V6-Motor mit ebenfalls 510 PS weichen und auf den Allradantrieb wurde auch verzichtet. 350 Fahrzeuge sollten zum Preis von 450.000 Pfund (später 460.000 Pfund) gebaut werden – doch letztlich entstanden nur 275 XJ 220 (plus zehn Prototypen), da eine finanzielle Rezession kam und etliche Käufer auf dem V12-Motor bestanden und kein Geld für einen Sechszylinder ausgeben wollten. Käufer, die den Jaguar XJ 220 teilweise auch nur bestellt hatten, um ihn anschließend mit Gewinn weiter zu verkaufen und nun lieber auf ihre Anzahlung von 50.000 Pfund verzichteten, als den Wagen zu übernehmen.


Fotos Jaguar Land Rover Ltd.

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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