Kolumne Zeitsprünge | Bentley Bentayga S – Zu schade für den Chauffeur

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Seit mehr als 100 Jahren spielt das Haus Bentley im Reigen britischer Edel-Hersteller erfolgreich die Rolle des gut motorisierten, luxuriös ausgestatteten, mit außerordentlicher Liebe zum Detail designten und gebauten Understatement-Liners. Mit Rennsiegen geadelt (Sechs Siege in Le Mans!), noch immer größtenteils in Handarbeit produziert und in reichlich Leder und Holz gehüllt, gehört das Label zu den Ikonen der Automobil-Geschichte.

Es ist also jedes Mal einer der Höhepunkte des Jahres, wenn die Chance besteht, in einen Bentley-Sitz zu gleiten. In diesem Fall handelte es sich um einen Sitz im Bentley Bentayga S – einer neuen Variante des Nobel-SUV, der sich mittlerweile mit einem Marktanteil von 40 Prozent neben den Continental-Modellen (ebenfalls 40 Prozent) zu einem der Bestseller im Bentley-Programm entwickelt hat. Eigentlich eine merkwürdige Welt – da produziert Bentley seit mehr als 100 Jahren großartige Limousinen, mit denen man entspannt zum Ende der Welt reisen möchte und beglückt die Wohlhabenden der Welt mit Coupés und Cabriolets, die genauso gerne in Kampen wie an der Cote d`Azur oder am Highway Number 1 in Kalifornien genutzt werden. Und dann kommt ein SUV daher, der ein neues Publikum in die Verkaufsräume lockt – damit die Familie, der Hund und das Gepäck adäquat an den Strand und ins Gebirge transportiert werden können.

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Von der ersten SUV-Überlegungen bis zum Bentley Bentayga S

Eine Entwicklung, die mittlerweile alle großen Luxus-Hersteller der Welt in ihre Überlegungen und ihr Modell-Programm miteinbezogen haben – und sich bei Bentley seit 2016 im Bentayga manifestiert. Die Briten hatten bereits 2012 auf dem Genfer Automobilsalon einen ersten SUV-Show Car mit der Bezeichnung Bentley EXP 9F gezeigt, und das wohlwollende Murmeln ihrer Klientel dahingehend gedeutet, dass Interesse an einem geländegängigen Bentley besteht, der den einen oder anderen Range Rover in der Garage ersetzen könnte.

Die Serienversion stand dann im September 2015 auf der IAA in Frankfurt und 2016 begann die Auslieferung der ersten Bentayga-Modelle, damals „nur“ mit dem 6-Liter-V12-Motor mit 608 PS oder 447 kW Leistung. Dass dann von 2017 bis 2019 auch ein Bentayga Diesel mit einem 4-Liter-V8-Selbstzünder und 435 PS (320 kW) Leistung angeboten wurde, wird heute bei Bentley als Fauxpas erklärt, der nie wieder vorkommen soll. Natürlich gab es auch Kunden, die nicht zwangsläufig 6 Liter Hubraum, zwölf Zylinder und 608 PS für den Transport ihres maßgeschneiderten Reisegepäcks benötigten – folgerichtig ergänzte deshalb 2018 der Bentayga V8 mit 4 Liter Hubraum, acht Zylindern und 550 PS (404 kW) Leistung das Modellprogramm. Dass die Höchstgeschwindigkeit von knapp über 300 km/h auf nun 290 km/h sank, wurde dabei nicht wirklich als Manko gesehen.

Und um der Umwelt-Diskussion etwas aus dem Weg zu gehen, erschien im Juli 2019 auch eine Hybrid-Variante, bei der ein 3-Liter-Sechszylinder mit 340 PS (250 kW) und ein 128 PS (94 kW) leistender Elektromotor einen DIN-Verbrauch von 3,6 Liter Super hervorzauberten – wofür die Höchstgeschwindigkeit auf 254 km/h sank.

Eine interessante Entwicklungsgeschichte, die nun durch den neuen Bentayga S ergänzt wird, dessen Appendix „S“ – der übrigens beim Bentayga erstmals zum Einsatz kommt – ganz klar für „Sport“ steht. Um dem doch 5,12 Meter langen, zwei Meter breiten und 1,74 Meter hohen SUV zu mehr Sportlichkeit zu verhelfen, schlummert unter der Karosserie eine innovative aktive Wankstabilisierung. Sie soll dem Bentley Bentayga S in schnellen Kurven die Agilität eines Sportwagens verleihen, die im Alltag vom kultivierten Fahrgefühl eines luxuriösen Grand Tourers ergänzt wird. Der Techniker erklärt das so: „Das als Bentley Dynamic Ride bekannte System nutzt einen 48-Volt-Elektromotor, um in Kurven die Stabilisatoren härter einzustellen. So wird das Fahrzeug stabil gehalten und vermittelt Ihnen direkten Fahrbahnkontakt. Unter alltäglichen Fahrbedingungen lässt dieser Motor den Stabilisatoren etwas mehr Spielraum und ermöglicht so höheren Komfort im Innenraum“.

Für den Vortrieb sorgt der bekannte 4-Liter-Achtzylinder mit Doppelaufladung, der bei 6.000/min 404 kW oder 550 PS bereitstellt – beeindruckender ist jedoch das maximale Drehmoment von 770 Nm, das zwischen 1.960 und 4.500/min zur Verfügung steht. Klar, dass dieses Kraftpaket mit dem Leergewicht von beachtlichen 2.416 Kilogramm nicht wirklich Probleme hat – 290 km/h wären möglich, bleiben aber wahrscheinlich auf den Straßen der Welt ein eher hypothetischer Wert, der im Golf-Club diskret ins Gespräch eingeflochten werden kann. Wer Gas geben will, beschleunigt den SUV auch in 4,5 Sekunden auf Tempo 100 – aber ehrlich gesagt: Das elegante Dahingleiten mit niedrigen Drehzahlen und das Wissen darum, dass es auch anders gehen könnte, macht wesentlich mehr Spaß. Und es schont auch den Geldbeutel – denn der Verbrauch sinkt dann dramatisch, wobei der DIN-Wert von 13,2 Litern nur mit sehr viel Willen und einem sanften Gasfuß erreicht werden kann. Andererseits: Wer 193.193,27 EUR netto für einen Basis-Bentayga S überweisen kann, hat an der Tankstelle wahrscheinlich etwas weniger Hemmungen „Einmal Volltanken“ zu sagen.

Wozu zu dem Preis noch zu sagen wäre, dass es keinen Bentley Bentayga S gibt, der in der Basisversion ausgeliefert wird – dafür ist das Individualisierungsprogramm zu verlockend: „40.000 bis 50.000 Euro gehen gerne noch für die spezielle Anpassung des Wagens an die individuellen Wünsche drauf“, weiß ein Münchner Verkäufer, „und es kann gerne auch noch einmal mehr sein“.

Die kleinen Details zeichnen den Bentley Bentayga S aus

Da die Umwelt derart selten einen Bentayga zu sehen bekommt, dass ihr der „S“-Version wohl kaum extra auffällt, hier die Erkennungsmerkmale des „Sport“: Der Bentayga S ist serienmäßig mit der Blackline Specification ausgestattet, bei der das gesamte Exterieur von faszinierenden dunklen Details ergänzt wird: schwarze Matrixgrills und Luftauslässe in den Kotflügeln sowie Dachreling und Einfassungen von Türen, Türgriffen, Fenstern und Scheinwerfern in Schwarz. Die Stoßfänger an Front und Heck sind im gleichen Sport-Design wie beim Bentayga Speed gestaltet, wurden jedoch mit neuen, schwarzen Details ergänzt, die exklusiv dem Bentley Bentayga S vorbehalten sind. Weitere Ergänzungen sind schwarz lackierte Seitenschweller und ein Spoiler in Karosseriefarbe mit einer schwarzen Abrisskante. Die Außenspiegel sind in glänzendem Schwarz lackiert.

Eines der auffälligsten Merkmale der Außenausstattung ist jedoch ein spektakuläres 22-Zoll-Raddesign, das eigens für den Bentley Bentayga S entworfen wurde. Das in drei faszinierenden Ausführungen verfügbare Rad ist mit fünf sichelförmigen Speichen versehen – und da es für beide Seiten des Fahrzeugs entsprechend angepasste Designs gibt, sind die Speichen stets gleich ausgerichtet, von welcher Seite aus das Fahrzeug auch betrachtet wird.

Feintuning auch im Innenraum: Werden die Türen geöffnet, leuchten die Einstiegsleisten auf und zeigen ein funkelndes „S“-Emblem. Das sportliche Motiv wird mit einer neuen Leder-Farbkombination fortgesetzt, bei der Alcantara-Details die Lederflächen im gesamten Interieur ergänzen und die in einer eleganten Längssteppung gestalteten Sitzbezüge sind mit dem „Bentayga S“-Schriftzug bestickt. In der Mitte der Armaturentafel sitzt ein hochauflösender Touchscreen mit 10,9 Zoll Bildschirmdiagonale.

Auf der Straße entpuppt sich der Bentayga S als ungewöhnlich temperamentvoller SUV – was bei der zur Verfügung stehenden Leistung nicht wundert –, der jedoch dank Wankstabilisierung wie das sprichwörtliche Brett auf der Straße liegt. Ist der Enhanced Sport-Modus aktiviert, wird das Fahrgefühl noch direkter, da Lenkung, Aufhängung und Fahrwerksysteme in diesem Modus so eingestellt werden, dass sie noch mehr Gefühl für die Straße erhalten. Dafür steht andererseits im Komfort-Modus ein wunderbar entspanntes Dahingleiten an – bei dem sich Familie samt Hund besonders relaxed transportieren lässt. Und last, but not least, zählt der Bentayga auch im Gelände zu den Besten seiner Klasse – hier fühlt sich der Jäger auch im extremen Gelände stets gut aufgehoben und wohl, sofern er mit den sehr wahrscheinlich auftretenden Spuren der Natur im Lack leben kann. Die auf Wunsch erhältliche All-Terrain Specification eröffnet noch zusätzliche Möglichkeiten: Hier maximieren vier Offroad-Fahrmodi die Traktion auf verschiedenen Untergründen.

Diskutabel scheint der neue, im Serienumfang enthaltene Sportauspuff zu sein – Bentley bezeichnet den Sound „als phänomenal“. Und ergänzt: „Sie dürfen also ein unvergessliches Erlebnis für alle Sinne erwarten, das Sie und Ihre Passagiere gleichermaßen faszinieren wird“. Wahrscheinlich gibt es eine Klientel, die diesen Sound zu würdigen weiß – aber ob das Bentley-like ist?

Über den verschwenderischen Einsatz von Holz und Leder – oder falls gewünscht: Karbon – ist schon oft gesprochen worden. Die zeitintensive Handarbeit hat ihren Preis, liefert aber dafür eine Wohlfühl-Atmosphäre, die nur ganz wenige Hersteller anbieten können. Natürlich können Front- wie Fondpassagiere ihre Umgebung über Bentleys Touchscreen-Fernbedienung steuern – ein Tablet, über das sie die Blende des Panoramadachs, das Musiksystem und die Einstellungen der Stimmungsbeleuchtung bedienen können. Über eine integrierte SIM-Karte kann eine Internetverbindung hergestellt werden, die einen komfortablen Zugriff auf Online-Inhalte ermöglicht. Und auch bei den Stereo-Anlagen besteht die Qual der Wahl zwischen zwei Systemen, die den Innenraum perfekt beschallen.

Wie bereits erwähnt, gibt es bei dem Wunsch nach einer individuell zugeschnittenen Ausstattung praktisch keine Grenzen. Der Bentayga S kann – wie jeder Bentley – mit einer großen Palette an Karosserielacken, Lederfarben, Holzfurnieren und anderen Interieur-Optionen individualisiert werden. Von kleinen Details wie Steppungen und Bestickungen bis hin zur Wahl von Farbkombinationen für die Lederausstattung im Innenraum – nichts ist unmöglich, sofern man gewillt und bereit ist, den entsprechenden Scheck auszufüllen.

Sehen wir es einmal so: Noch gibt es die Manufakturen, die dank motivierter Mitarbeiter und hoher Handwerkskunst, solche kleinen Juwele herstellen können – und es gibt auch Menschen, die es sich leisten können, ein Auto in die Garage zu stellen, das in dieser Form von keinem Roboter gebaut werden kann. Und das sind doch eigentlich gute Nachrichten.

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Fotos James Lipman/Bentley Motors Ltd.

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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