Kolumne Zeitsprünge | Alfa Romeo 155 1.7 – Das Stiefkind der Gemeinde

1993 Alfa Romeo 155 1.7 Twin Spark (2)

Alfisti sind wie scheue Rehe – sie wagen sich nur auf bekanntes Gelände, sie schätzen nur die bekannte Futterstätte und nehmen sich nur das, was sie kennen. Und damit begannen auch gleich die Probleme für den neuen Alfa Romeo 155, dessen Unterbau aus Entwicklungs- und Produktionskosten dem des Fiat Tipo und des Lancia Dedra gleicht. Für den überzeugten Alfa-Fahrer ist diese vernünftige Teilegleichheit hingegen ein Gräuel.

Und dann kam da noch die Optik des Alfa Romeo 155, die – vorsichtig gesagt – nicht über die formale Eigenständigkeit verfügt, die Alfisti so hoch bewerten. Und die auch in keinster Weise an die zeitlose Eleganz des 164 anzuschließen vermag – kurz gesagt: Der 155 ist nicht der Erfolg geworden, den sich seine Väter erhofft hatten.

1993 Alfa Romeo 155 Twin Spark (1)

Nach dem Topmodell die Abrundung nach unten beim Alfa Romeo 155

Was tun in einer solchen Situation? Der Weg nach oben zu einer besonders leistungsstarken Variante wurde ja bereits mit dem Q4 gegangen – jenem allradgetriebenen 137 kW (190 PS) starken Turbo-Vierventiler, der auch als Basismodell des Rennwagens dient, mit dem Alfa Romeo bei den Tourenwagen derzeit die Mercedes-Armada ärgert. Die logische Schlussfolgerung war deshalb ein Abspecken des Basismodells, das mit weniger Hubraum und reduzierter Leistung zum Kampfpreis auf den Markt geworfen wird.

So heißt das neue Modell nun 1.7 Twin Spark, und dieser Bezeichnung entnehmen wir, dass der Reihen-Vierzylinder auf 1,7 Liter Hubraum verkleinert wurde – das stimmt jedoch nicht, denn er verfügt in Wirklichkeit über 1.749 cm³ Hubraum gegenüber den 1.773 cm³ seines Vorgängers. Natürlich ist mir dieser Verkleinerung auch die Leistung gesunken: Gegenüber den 95 kW (129 PS) des 1.8 bietet der 1.7 nun 85 kW (115 PS). Allerdings sollte man sich von den 10 kW Unterschied nicht täuschen lassen: Der Kleine marschiert praktisch genauso gut wie sein Vorgänger – nach 11,8 Sekunden ist die 100-km/h-Grenze erreicht, und die Höchstgeschwindigkeit beträgt 191 km/h.

1993 Alfa Romeo 155 1.7 Twin Spark (1)

Was sind die Vorteile des Alfa Romeo 155

Wo liegt nun der finanzielle Vorteil des Neuen? Zuerst einmal ist er mit einem Preis von 31.300 Mark um 400 Mark billiger als sein 14 PS stärkerer Vorgänger – dazu sind nun ein Anti-Blockier-System und ein Seitenaufprallschutz serienmäßig, macht summa summarum eine Ersparnis von rund 2.000 Mark. Außerdem ist nach diesen Modellpflegemaßnahmen ein Fahrer-Airbag mit Gurtstraffer zum Preis von 750 Mark lieferbar. Nicht weniger als 2.000 Exemplare plant man noch in diesem Jahr unter die hauptsächlich männliche Käuferschar zu bringen.

Die Sitzposition gehört nicht zu den glücklichsten im Angebot, man sitzt zu nah hinter dem Steuerrad – dafür muss man dem DOHC-Motor einmal mehr konstatieren, dass es auch noch nach Jahrzehnten zu den agilsten und sonorsten Triebwerken seiner Klasse gehört.

Noch mehr Freude macht da eigentlich nur noch der 2,5-Liter-Sechszylinder des 155 V6, den wir ebenfalls für einige Tage fahren konnten. Mit seinen 121 kW (165 PS) ist er mehr als ausreichend motorisiert (Höchstgeschwindigkeit: 215 km/h), allerdings hat der Frontantrieb mit dieser Leistung auf nassem Untergrund zuweilen seine Schwierigkeiten – und außerdem neigt der temperamentvolle Sechszylinder zu kräftigen Trinksitten: Unter 13 bis 14 Liter bleifreies Super kamen wir auf 100 Kilometer nicht aus. Dennoch bietet er für rund 10.000 Mark mehr Kaufpreis deutlich mehr Fahrspaß und Alfa-Feeling. Der 1.7 ist da schon sparsamer: Hier verlangt der 63 Liter fassende Tank nach bleifreiem Superbenzin, und der 1.7 schluckt im DIN-Drittelmix 8,1 Liter auf 100 Kilometer – tatsächlich dürften es dann aber rund zehn Liter sein.

Es ist nicht einfach, dem 155 gerecht zu werden – die Form hat sich uns noch nicht so eingeprägt, und auch im schönsten Alfa-Rot hat man noch so seine Identifikationsprobleme. Andererseits arbeiten unter der Motorhaube zweifellos attraktive Triebwerke, die dem Namen des Hauses gerecht werden. Das Fazit: Wir werden uns an ihn gewöhnen (müssen) – und er ist besser als sein Ruf. Wer für Alfa Romeo anfällig ist, sollte sich zumindest einmal in einen 155 hineinsetzen und eine Runde drehen.


Dieser Text ist erstmals in der Süddeutschen Zeitung Nr. 122 vom 29. Mai 1993 erschienen.


Fotos FCA Germany AG

Autor: Jürgen Lewandowski

Jürgen Lewandowski schreibt seit mehr als 40 Jahren über Menschen und Autos - und hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht. Traumklassiker: Alfa Romeo 8C 2900 Touring Spider und Lancia Rally 037. Eigener Klassiker: Alfa Romeo R.Z. von 1993.

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