Honda Gold Wing – Die Missverstandene

Honda Gold Wing GL 1000 PS Speicher (26)

Springen wir 50 Jahre zurück: Die erste Ölkrise, die den Fortschrittsglauben der westlichen Welt und ihre Ökonomie im Herbst 1973 massiv erschüttern sollte, war noch nicht zu ahnen. Honda hatte mit Modellen wie der CB 77 „Hawk“, der CB 450 „Black Bomber“ und vor allem der CB 750 Four den weltweiten Motorradboom in Fahrt gebracht. Und nun sollte die kommende Honda Gold Wing abermals die Vormachtstellung der Marke im Bau von Big Bikes demonstrieren.

Aufsehenerregende Technik, gediegene Verarbeitung und problemlose Funktion nahmen weltweit die Motorradfans für Honda ein. In deren Fahrwasser kamen auch die anderen japanischen Marken auf, die mit deren leistungsstarke Maschinen versuchten, den Branchenriesen zu attackieren, während die Europäer mit hochwertigen Fahrwerken, aber einfacher Motorentechnik abgeschlagen wirkten.

Hinter den sensationellen Entwicklungen von Honda stand Soichiro Irimarij und grübelte 1972 über ein neues Flaggschiff. Was er zum Herbst 1972 vorstellte, verschlug selbst seinen Mitarbeitern den Atem. In wenigen Monaten hatte Irimarij unter Verwendung von Teilen aus dem Konzernbaukasten und einigen BMW-Komponenten wie der Hinterradschwinge samt Achsgetriebe, den Schalldämpfern und der Sitzbank einen aufsehenerregenden Luxustourer komponiert, der mit einem Sechszylinder-Boxermotor aus 1.470 cm³ geschmeidige 80 PS erreichte.

Damit wäre Honda sofort an der Spitze des Angebots gelandet. Unter dem Prototypen-Kürzel AOK wurde diese Machbarkeitsstudie im Honda Management und im Honda R&D „Research und Develop Center“ herumgereicht und diskutiert. Mit 220 Kilo Trockengewicht war die Maschine nicht einmal zu schwer geraten. Doch Technologen und Controller fürchteten den Aufwand, so eine Maschine zum zuverlässigen und bezahlbaren großen Motorrad zu entwickeln.

Irimarij musste einen Gang zurückschalten. So erhielt der Nachfolger der AOK „nur“ vier Zylinder, die Aufwand, Kosten und Gewicht deutlich verringerten. Das neue Motorrad wurde für eine anspruchsvolle Kundschaft konzipiert und sollte zunächst im Frühjahr 1974 präsentiert werden. Doch die Ölkrise, die hierzulande mit den Sonntagsfahrverboten und dem sprunghaften Preisanstieg bei Kraftstoffen und Heizöl lange in Erinnerung blieb, machte auch Honda einen Strich durch die Rechnung. Auch die Kunden auf dem wichtigsten Markt für Oberklassemotorräder, der USA, waren plötzlich zögerlich.

Der verspätete Start der Honda Gold Wing

Und so debütierte das neue Motorrad im September 1974 in Köln auf der „Internationalen Fahrrad- und Motorrad Ausstellung“ mit dem verheißungsvollen Namen Honda Gold Wing. Der goldene Flügel stand dort als Motorrad, das grösser, länger, stärker und schwerer als alles bisher Dagewesene aus Japan war. Und sie hatte als erstes leistungsstarkes Superbike aus Japan nicht nur einen Vierzylinder-Boxer mit 999,5 cm³, sondern den von Tourenfahrern schon lange ersehnten Kardanantrieb.

Während das Fahrgestell der vollgetankt 295 kg schweren GL 1000 „Gold Wing“ abgesehen von der Doppelscheibenbremse im Vorderrad wenig Überraschendes bot, zeigte sich der Motor als geradezu sensationelles Angebot. Mit seinen technischen Lösungen konnten drei Ziele erreicht werden: Hohe Laufkultur, hohe Leistung, hohe Lebensdauer.

Die Kurbelwelle lag wie bei Moto Guzzi und BMW längs zur Fahrtrichtung, was durch den Wellenantrieb zum Hinterrad naheliegend war. Im vertikal geteilten Motorgehäuse rotierte die Kurbelwelle in drei Gleitlagern und einem hinteren Führungslager mit Kugeln. Zylinder und Köpfe waren komplett wassergekühlt und wurden von oben nach unten durchströmt. In den Zylinderköpfen rotierte je eine Nockenwelle, die ihre Arbeitsbefehle über Kipphebel an die Ein- und Auslassventile weitergab. Diese Nockenwellen wurden – erstmals bei einem OHC-Motor im Motorradbau – per Zahnriemen angetrieben.

Der Abtrieb von der Kurbelwelle saß an deren hinterem Ende in Form einer Zahnkettentriebs. Von dort gelangte die Kraft nach unten auf das Fünfganggetriebe, das im „Tiefparterre“ des Motorgehäuses saß. Dadurch baute er das gesamte Triebwerk relativ kurz. Noch dazu rotierte die Mehrscheiben-Nasskupplung gegenläufig zur Kurbelwelle, um das für viele Fahrer irritierende Rückdrehmoment der Kurbelwelle zu eliminieren. Über eine Nebenwelle rechts hinten am Triebwerk wurde dann die Kraft von der Kupplung auf die Gelenkwelle durchgereicht. Auch die Lichtmaschine fand sich am hinteren Ende der Kurbelwelle im Ölbad.

Der Rahmen der Maschine war ein konventionelles Rohrgebilde aus verschweißten Stahlrohren und Knotenblechen. Die Schwingenlagerung war außen breit gefasst. Trotz der Massivität fielen der Schrittbogenbereich und der Unterschenkelschluss angenehm schmal aus. Der vermeintliche Tank zwischen den Knien des Fahrers war keiner. Der Kraftstofftank der Maschine fasste 19,3 l und fand sich schwerpunktgünstig im sogenannten Rahmendreieck unterhalb von Tank und Sitzbank. Eine mechanische Kraftstoffpumpe förderte den Kraftstoff zu den vier Einzelvergasern oberhalb der Zylinder, da die übliche Schwerkraftförderung mit dieser Konfiguration nicht funktioniert hätte. So bot sich in der Tankattrappe ein hervorragender Platz für ein voluminöses Werkzeugstaufach, den Luftfilter, den Ausgleichsbehälter der Flüssigkeitskühlung, den ansteckbaren Kickstarter. Und unter der linken Abdeckung befand sich übersichtlich die Zentralelektrik der Maschine. Honda hatte weder Produktionskosten noch Überlegungen gescheut, um die Gold Wing zu etwas Besonderem zu machen.

Instrumentierung und Beleuchtung entsprachen dem hohen Standard, den Kunden von Honda erwarten konnten. Die großen Blinker waren damals topmodisch. Mehr als das Übliche waren die Benzinuhr und die Anzeige der Wassertemperatur. Die Wasserkühlung trug Mitte der 70er Jahre noch den Ruch des Exklusiven. Hier war sie zwingend notwendig, da die hinteren Zylinder sonst im Kühlschatten gestanden hätten. Und sie brachte gleichzeitig den Nebeneffekt guter Abschirmung der mechanischen Motorgeräusche.

Kurzum: Die Honda Gold Wing GL 1000 K 0 setzte neue Maßstäbe hinsichtlich Antriebskomfort und Motorleistung. Der eindrucksvolle Auftritt war speziell für die US-Kundschaft mit viel Chrom garniert und Lackierungen mit doppelter Linierung sollten Gediegenheit ausstrahlen.

Die neue Honda Gold Wing polarisiert

Kaum stand das Motorrad auf der Messe, polarisierte es schon die Gemeinde. Altgediente Fahrensleute, die typischen Windgesichter, die sich Januar für Januar auf dem Elefantentreffen trafen und einfache Technik liebten, schüttelten den Kopf; Racer und Geländefans auch. Angesichts des Technooverkills waren Technikbegeisterte, Quartettspieler und Freunde des exklusiven Auftritts begeistert. Ähnlich ambivalent war auch das Urteil der Tester. Die vom konservativen Chefredakteur Ernst Leverkus geleitete Fachzeitschrift „PS“ nannte die Honda „ein aufwendiges, ja zu aufwendiges Motorrad“. Und kritisierte die schlecht abgestimmten und zu zarten Fahrwerkselemente der Maschine. „Die Sensibilität des Fahrwerks für die Tourenkonzeption dieser Maschinen in Ehren, aber die proklamierte Sicherheit trifft bei den losgelassenen 82 Pferden kaum zu.“ Auch der Marktführer: „Das Motorrad“ hielt sich mit Kritik an der rund 200 km/h schnellen Maschine zurecht nicht zurück: „In langgezogenen Autobahnkurven bei hinreichendem Mut des Fahrers und 210 Einheiten auf dem Tacho können Situationen auftreten, die das Wort „Sicherheit“ Lügen strafen. Über eine anfänglich leichte Nickerei der Hinterhand überträgt sich die Unruhe jäh auf das gesamte Fahrwerk. Wie eine Naturgewalt versuchen die sechs Zentner der Fliehkraft entsprechend nach außen zu drücken. Wer beim Wiedereinfangen der Maschine nur eine Autobahnspur benötigt, hat raumsparend und glücklich gearbeitet.“ Das Fahrverhalten wurde also kritisch beurteilt.

Auf kurvigen Strecken vermochten die geringe Bodenfreiheit samt relativ früh aufsetzenden Fahrwerkselementen zum Versetzen führen. Bei Passfahrten offenbarte sich die relativ zahnlose Bremsanlage mit nicht hitzefesten Belägen.

Dennoch fanden sich Fans der grandiosen Laufkultur und der souveränen Leistungsentfaltung des 1000er Triebwerks wie auch der raffinierten und gelegenen Detailverarbeitung. Dazu Paul G., der seine K 0 Ende 1975 aus dem Nachlass eines Freundes erwarb. „Als junger NATO-Offizier pendelte ich zwischen Bonn, Trier und Korsika pro Jahr 50.000 km. Nach meiner BMW R 60/6 war die Honda Gold Wing eine souveräne Offenbarung. Perfekt um auf den damals flott zu fahrenden Route National und der Autoroute de Soleil entspannt zu reisen. Sie ebnete ohne Getöse oder Schaltarbeit jede Steigung ein und schonte Körper und Nerven. Für mehr Komfort spendierte ich einen „Travelmaster“-Sitz und eine Windschutzscheibe. Das schaukelige Fahrwerk bekam ich mit Koni-Federbeinen, einem Gabelstabilisator, ordentlich geschmierten Schwingenlagern und europäischen Pneus in den Griff. Ich kaufte das Rad mit 28.000 km und verkaufte sie mit der zehnfachen Laufleistung wieder. Niemals hatte ich eine Panne, hielt aber die Wartung sehr penibel ein. Mit 6 bis 8 Litern war der Verbrauch akzeptabel. So hätte der Tank noch größer sein, da man Stunde um Stunde ohne Pausenwünsche fahren konnte.“

Der Ruf der Gold Wing in Schräglage

Doch irgendwann bekam die Honda Gold Wing, die sich gut verkaufte, eine richtig schlechte Presse. 1977 und 1978 kam es zu schwerwiegenden Unfällen, bei denen ein Fahrer verstarb, einer einen Arm verlor und ein Berliner lange Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Was war geschehen? Diese Fahrer waren auf leerer Autobahn bei gutem Wetter plötzlich gestürzt. Der Berliner Gold Wing-Pilot Stanko verklagte nach seinem Sturz Honda und Honda Deutschland. Honda versuchte zunächst mit der hilflosen Erklärung, dass es sich bei der Gold Wing um eine Tourenmaschine handeln würde und versuchte mit Zahlungen an die Opfer die Wogen zu glätten.

Doch schließlich beauftragten die Gerichte Sachverständige, die herausfanden, dass bei der labilen Straßenlage der Honda Gold Wing 1000 die von der Firma Krauser gelieferte und vom TÜV jeweils abgenommene lenkerfeste Cockpitverkleidung die Maschine – vermutlich durch Auftrieb – so destabilisieren könnte, dass „unbeherrschbare Fahrzustände“ auftreten könnten. Jedoch beurteilten die Gutachter auch die Konstruktion der Gold Wing selber, so „dass weder die durchgeführten Fahr- noch Laborversuche Hinweise ergaben, dass grundsätzliche Konstruktionsfehler am Fahrwerk vorlägen“. Erstinstanzlich wurde Honda freigesprochen. Und in Zukunft waren Motorradhersteller und Zubehöranbieter stärker in der Pflicht, die sichere Funktion von Zubehör zu belegen.

Nach den kaum geänderten Modellen K 1 und K 2 und der massiv geänderten K 3 stellte Honda auf dem Pariser Salon 1979 die GL 1100 vor. Die 1100er mit einem Hubraum von 1.085 cm³ war wesentlich fahrsicherer um den Preis massiver Gewichtszunahme. Der Radstand war auf massive 1.605 Millimeter gewachsen. Ein flacherer Lenkkopfwinkel und mehr Nachlauf stabilisierten geometrisch. Dazu kamen dickere Standrohre der Telegabel sowie weitere stabilisierende Maßnahmen am Fahrwerk. Die Tester waren angenehm überrascht und resümierten, dass die neue Gold Wing sich zwar nach wie vor verwand, aber sich in langgezogenen Kurven nicht mehr aufschaukeln würde. Die Sitzposition mit der Stufensitzbank und der sehr hohe Tourenlenker charakterisierten diese Gold Wing Variante mehr denn je als ruhiges Tourenmotorrad. Ab 1981 war auch ab Werk eine große, rahmenfeste Verkleidung lieferbar, die den Komfortcharakter weiter betonte und die Gold Wing auch visuell veränderte. Jede Modelländerung in Zukunft schob das Motorrad mehr in Richtung Luxustourer und so erzog sich Hondas Goldener Flügel eine bestimmte Gemeinde von meist begeisterten Langstrecken-Fahrern, die den einzigartigen Komfort dieser Maschine schätzten.

Und so füllt die Honda Gold Wing heute noch einen kleinen, aber festen Platz im Honda Modellprogramm und begeistert nach wie vor mit Technik, Komfort und barocker Opulenz die Fans.


Text und Fotos Andy Schwietzer

Autor: PS.SPEICHER

Der PS.SPEICHER ist Europas größtes Oldtimer-Museum. 2.500 historische Fahrzeuge an fünf Standorten in Einbeck warten auf Ihre Entdeckung. Von der interaktiv und spielerisch inszenierten Zeitreise durch die Mobilität bis zu zu Spezial-Ausstellungen für Motorräder, Automobile und Nutzfahrzeuge.

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